Meine Damen und Herren, sehr verehrte Anwesende, liebe Kollegiatinnen und Kollegiaten,
lassen Sie mich an dieser Stelle vom üblichen Ablauf einer von den Notwendigkeiten des Lehrplans diktierten Unterrichtsstunde abweichen. Denn wie schon Marcel Proust, den Ihnen sicherlich bekannte französische Dichter so weise bemerkt hat: die Ausnahmen von der Regel machen den Märchenzauber des Daseins aus. Nun ja, einen Märchenzauber kann ich Ihnen natürlich nicht versprechen, das wäre wohl etwas zu prätentiös in meiner Position, aber ich bitte Sie: Lassen Sie mich heute also ausnahmsweise mit einer kurzen Rede den Unterricht beginnen, eine Rede, die Sie sich mit vollem Recht verdient haben, eine Rede, für welche sich vergangenen Freitagabend ein Anlass allererster Güte bot, Sie wissen, worauf ich anspiele: Ich spreche von Ihrer stilvollen, rund herum gelungenen und beeindruckenden Exkursion in die Welt des Entertainments. Keiner, und ich betone ausdrücklich: Keiner sollte es wagen sich hier laut als Kritiker aufzuspielen, etwa beispielsweise eine überzogene Darstellung des Englisch-Leistungskurses bemäkeln, oder den Biologen geistigen Diebstahl bei Otto Waalkes ankreiden, nein, das wäre kleinlich und peinlich, denn was Sie den Anwesenden boten, war eine Tour de France, eine Spritztour nicht im 190-Diesel oder in einem Ford Fiesta aus den späten 80er Jahren, nein in einem eleganten Aston Martin, übrigens dem Vehikel des ersten 007, nahmen Sie das Publikum mit, hinauf in die Höhen und hinunter in die Tiefen des Schulalltags, Sie entführten es hinein die Niederungen des Lehrerdaseins und hinan, möchte man Goethe paraphrasieren, zum Ewig-Weiblichen: zur Muse: Sie stieg hernieder, sie küsste uns und entließ nach zweieinhalb Stunden berauscht, von Sinnen, aufgelösten in periodisch wiederkehrenden Wogen befreienden Lachens. Dieser Abend war: nicht nur säuisch sondern erdmännisch gut, das war Kunst scheiblweise, das war gedrexelte Unterhaltung mit Sinn, Grenzen wurden niedergerissen, Personen durchmischt, ein (Hinter)meier wurde zum (Pfaffen)huber, ein Bauer zum Maier, Männer mutierten zu weiblichen Vamps, Heino wurde mit sich selbst potenziert, das war, um es auf den Punkt zu bringen; das war der Überacker!
Ich bitte Sie mit diese zugegeben etwas flachen Namens-Anspielungen zu verzeihen, die ich hier einsetze, um meiner Begeisterung Ausdruck zu verleihen.
Wenn Sie nun meinen, dies sei eine Lobrede, weit gefehlt, kann ich da nur sagen, da muss ich Sie enttäuschen, denn der tiefere Sinn, dieser bescheidenen rhetorischen Bemühungen meinerseits liegen woanders: wir kennen in der Rhetorik noch andere Redeanlässe und einer davon insbesondere in der Historie ein bedeutender ist die explikatorische Verteidigung. Und so komme ich nun zum Hauptteil meines kleinen einleitenden Vortrags, und ich darf Ihre Aufmerksamkeit noch ein wenig beanspruchen, nicht dass ich mich auf der Anklagebank sehe, nicht dass mich „jemand verleumdet“ hat und ich deswegen einen literarischen Text mir abringen musste, nein, soweit geht das nicht, aber ich entsinne mich Ihrer Worte vom Freitag, sie klingen in mir nach: „Er wollte uns nicht bei sich zu Hause, einen Kursabend werde es nicht geben.“ Ja, was sagen mir diese Worte, was drückt sich in ihnen aus? Wohl ein zutiefst menschliches Verlangen, einmal aus dem selben Topf gegessen zu haben, einmal denselben Blick aus dem Fenster geworfen zu haben, einmal auf demselben Pott gesessen zu sein wie der Mann, dieses studienrathafte Subjekt, dessen Willkür man fast zwei Jahre lang ausgeliefert ist. Einmal einen Blick in sein Innerstes zu werfen, dies ist Ihnen nicht gegönnt und verstehe Ihre Enttäuschung, Ihr Zurückgewiesenwerden kann ich nachvollziehen. Und so mussten Sie sich beschränken auf die spärlichen Artefakte, zu deutsch: die bescheidenen Zeugnisse, meiner für Sie dunklen Existenz: ein paar Pantoffeln, seltsame, immer wiederkehrende sich um Uhr und Geldbeutel drehende Gesten zu Beginn einer Unterrichtsstunde, ein geheimnisvolles Streckgehabe.
In Ihrem Kleinkunstabend sind manche Geheimnisse der Lehrerseelen gelüftet worden, wir können nun Auskunft geben über die Entstehung von resolutem Ärger bei Frau Sander, wir kennen die Gründe Rammelspergerschen Zuspätkommens, wir erlebten Herrn Liska in seinem vergeblichen Kampf gegen die deutsche Teilung, wir partizipierten an Zanklmeierschen Angstträumen, was aber wissen wir wirklich über die Rituale von Herrn Maier?
Was steckt dahinter? Ich will es Ihnen sagen, wenn Sie schon nicht von meinem Tellerchen essen und auf meinem Stühlchen sitzen dürfen. Wir sehen es bereits an kleinen Kindern: Jeder Mensch ist nunmal dankbar für Rituale, an ritualisierten Verhaltensweisen findet er die Sicherheit, die ihm die Moderne tagtäglich entreißt und in den Strudel der Globalisierung schickt, auf Nimmer Wiedersehen. Und gerade eine standardisierte Arbeitsexistenz wie die des Lehrers, bereits vorbereitet in 13 Jahren selbst erlittener Schulzeit, produziert, könnte man meinen, quasi per se sinnentleerte Rituale und endet zwangsläufig in der vorpensionären Verschrobenheit. Ja, aber wer möchte es wahrhaben, wer kann das ahnen? In diesen Gesten jedoch steckt nun etwas anderes als das, wonach sie scheinen. Eine Uhr: ein Klassiker der Moderne, das Diktat der Zeit, die Arbeitsdreiviertelstunde, Produktivität und Effektivität! … und das Portemonnaie: Signum der Sicherheit, des Wohlstands, des beim Beamten nie versiegenden Geldstroms… Pantoffeln: man denkt an Pantoffelheld, an Fernsehabende, an Spießertum par excellence. Alles schlimme Dinge. Zur Explikation und zur Widerlegung von derartigen Vorurteilen darf ich Sie entführen in meine Jugend, Zeit der tiefen Prägung in Form der sekundären Sozialisation. War mir, anders als zum Beispiel meinem Kollegen Liska, der Kampf in der ersten Reihe für internationale Solidarität und gegen das Monopolkapital aus Altersgründen nicht vergönnt – als die studentische Intelligenz mit Marx-Zitaten um sich warf, hing ich noch über den ersten Buchstaben – so streifte mich der Wertewandel, wenn auch nur medial vermittelt, wenigstens noch am Ende, bevor die Welle, die das Jahr 1968 erzeugte, gänzlich verebbte. Das US-Roadmovie „Easy Rider“, eine Apotheose der Freiheit und Ungebundenheit, gab meinem Leben … zwar keine entscheidenden Anstöße, aber zumindest lenkte es mein Bewusstsein auf die Dinge, die wirklich zählen. Und wie Dennis Hopper, bevor er sich auf seine Harley-Davidson schwingt und in die unendliche Weite der amerikanischen Highways entschwindet, seine Uhr vom Handgelenk nimmt und in den Dreck des Straßenrands wirft, er wird sie von nun an nicht mehr benötigen, so lege ich meinen billigen Zeitmesser hier vor mich hin, Zeichen des stillen, aber nachhaltigen Protests gegen die bürgerliche Ordnung und die verpönten Sekundärtugenden. Ja und auch den Geldbeutel distanziere ich mir, auch er hält mich in seinen Fängen und kettet mich an die Notwendigkeiten der Lebensexistenz: Kredite, Lebensversicherungen, Winterreifen, zwei Wochen Urlaub an der oberen Adria, neue Pantoffeln … irgendwann einmal.
Muss ich Ihnen das mit den Pantoffeln noch erklären, sehen Sie in ihnen nun nicht auch die stille Verweigerung, den leisen Protest, einen Aufschrei des Individualismus: Ich bin anders, sagt der Pantoffel zu den Straßenschuhen, ich bin nicht Teil des Systems. Ich verachte euch.
Nun zum Letzten: Warum streckt sich ein Lehrer beständig, immer wieder, quasi automatisch? Hat er zu wenig Schlaf, will er sich in Szene setzen, ist es ihm zu langweilig? Nein, er fühlt die Grenzen des Berufs, er fühlt die Zwänge des Beamtentums und er schiebt sie von sich, symbolisch, gestisch und ohne Erfolg. Deswegen wiederholt er diese Dinge, deswegen das Zwanghafte, das scheinbar Neurotische.
Ja nun, damit bin ich am Schluss meiner Ausführungen. Ich hoffe, ich konnte Ihnen die Hintergründe dieser seltsamen Gewohnheiten etwas erhellen, indem ich sie in ihre Herkunft eingeweiht habe. Eine letzte Aufklärung gibt es freilich nie, es bleibt ein Rest an Uneinsehbarkeit. Aber ich hoffe, und das schulde ich meinem Beruf, dass Sie dennoch etwas lernen konnten: Nichts ist wirklich so, wie es auf den ersten Blick scheint. Wo allerdings diese Aussage nicht zutrifft, und damit komme ich zum Anfang meiner kleinen Rede zurück:
Ihre Sketche und Einlagen am Freitag, der Kleinkunstabend der Kollegiaten ist im Jahresablauf einzigartig, eine große gigantische Ausnahme von der Regel, und damit bestätigt sich hier das Wort von Proust: ein Märchenzauber ganz besonderer Art. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Rede, gehalten von B. Maier am Montag, 27.11.06, in der dritten Stunde.